Redebeitrag der Initiative Tribunal „NSU-Komplex auflösen“

Tag der Urteilsverkündung im NSU Prozess, 11. Juni 2018
»Unsere letzten Worte richten wir an das Oberlandesgericht an den Vorsitzenden Herrn Götzl und den Senat. Wir möchten, dass sich der Senat vor Ort im Internet Café, in dem mein Sohn Halit ermordet wurde, von den örtlichen Gegebenheiten in meinem Beisein ein Bild macht. Denn dann werden auch Sie sehen, dass der damalige Verfassungsschützer Andreas Temme lügt. Sollte es keine Vorort-Besichtigung geben und die Ungereimtheiten von dem damaligen Mitarbeiter des hessischen Landesamts für Verfassungsschutz nicht aufgeklärt werden, weil der Senat Temme glaubt, ist für uns das gesprochene Urteil bei Beendigung des Prozesses vor Gericht nichtig. Wir werden das Urteil nicht anerkennen.“
Diese Worte sprach İsmail Yozgat, der Vater von Halit Yozgat, am 6. April 2016 in Kassel auf der Kundgebung zum zehnten Todestag seines Sohnes. Sein Antrag auf Besichtigung des Tatortes wurde vom Gericht abgelehnt. Mehr noch: Mitte Juli 2016 hat Richter Götzl einen für den Ausgang dieses Strafverfahrens wegweisenden Beschluss verkündet: »Die Angaben des Zeugen Temme in der Hauptverhandlung sind nach vorläufiger Würdigung glaubhaft“. Auch im heutigen Urteil bleibt Temmes Beitrag unbenannt.
Es ist unwahrscheinlich, dass Andreas Temme sich noch vor Gericht für seinen Beitrag zum Mord an Halit Yozgat verantworten muss. Ebenso unwahrscheinlich ist es, dass der Generalbundesanwalt nach dem heutigen Urteil einen zweiten Strafprozess gegen das Unterstützernetzwerk des NSU anstrengen wird. Unwahrscheinlich ist es schließlich auch, dass all jene, die sich hinter den Strukturen ihrer rassistischen Normalität verstecken von einem deutschen Gericht verurteilt werden: die Journalist_innen, die von Dönermorden und düsteren Parallelwelten fabulieren, die Beamten, die die Angehörigen und Opfer erpresst, eingeschüchtert und kriminalisiert haben und die Agenten in den geheimen Diensten, die das Morden der Nazi-Zellen bewirtschaftet haben und die die Spuren dieser gemeinschaftlichen Taten heute akribisch verwischen.
Ein Grund mehr, dass wir uns den oben zitierten Worten von İsmail Yozgat anschließen und weiter fordern, dass alle Schuldigen zur Verantwortung gezogen werden und dass allen Opfern Gerechtigkeit widerfährt.
Wir fordern weitere Strafverfahren gegen die konkret benannten Nazis und VPersonen im NSU-Komplex! Wir fordern Konsequenzen für die Politiker*innen, für die Staatsanwält*innen, für die Polizist*innen und für die Journalist*innen, die das Leben der Betroffenen ein zweites Mal zerstört haben.
Auf dem NSU Tribunal im Mai 2017 in Köln haben wir deshalb 90 Personen angeklagt, die nicht im Strafprozess in München angeklagt waren. Wir klagen dabei sowohl die Ermöglichungsbedingungen als auch die Verantwortung einzelner Personen im NSU-Komplex an – weil beides nicht voneinander zu trennen ist. Der NSU-Komplex geht über die individuelle Täterschaft bei den Morden und Bombenanschlägen weit hinaus; gleichwohl kann sich niemand hinter abstrakten Strukturen verstecken.
Diese Anklage des Tribunals war und ist eine notwendige Intervention. Doch sie ist nicht abschließend, die Öffentlichkeit muss sie fortschreiben und für weitere Aufklärung einstehen. Das heutige Urteil im NSU-Prozess ist kein Schlussstrich! Solange Personen wie Andreas Temme, Susann Emminger, Johann Helfer und Axel Minrath alias Lothar Lingen nicht auf der Anklagebank sitzen, werden wir keine Ruhe geben!!!!!!!!!
Wir werden weiter gemeinsam mit den Betroffenen von rassistischer Gewalt für die Aufklärung kämpfen und eine Gesellschaft ohne Rassismus einklagen!
Beim NSU-Tribunal in Köln, bei der Möllner Rede im Exil, beim Gedenken an Burak Bektaş, bei der Planung neuer Tribunale und am heutigen Tag: Die Betroffenen werden nicht schweigen. Sie fordern Respekt für ihre Geschichten und Solidarität für ihre Forderungen. Ihre Forderungen sind auch unsere!
Wir fordern:
Entwaffnet die Neonazis!
Löst den Verfassungsschutz auf!
Klagt alle Verantwortlichen an!
Entschädigt alle Betroffenen!
Nennt die Holländische Strasse in Halitstrasse um!
Baut das Denkmal in der Keupstrasse!