„Some of Us are Brave“ – Das Erbe Schwarzer Aktivistinnen in Deutschland

Text: Sharon Dodua Otoo
(Eine Version des Textes erschien in Missy Magazine, Mai 2013)
 
Letztes Jahr um diese Zeit hatte sich das Deutsche Theater in Berlin gerade dazu entschieden, in der Thalheimer-Produktion von Dea Lohers Stück “Unschuld” auf die Praxis des Blackfacing zu verzichten. Dieses historische Ereignis folgte auf wochenlange Kampagnen unter anderem von Schwarzen, POC und weißen Mitgliedern der neugegründeten, antirassistischen Initiative Bühnenwatch. Nun, nur ein Jahr später, ist eine ähnlich hitzige Debatte über die Verwendung rassistischer Termini in Kinderbüchern ausgebrochen. Die Emotionen kochen hoch und das Terrain fühlt sich seltsam vertraut an: wütende Blog-Posts, hitzige öffentliche Debatten, aufgebrachte Facebook-Diskussionen und erzürnte Tweets. In den weißen Medien wird von “Zensur” und “politischer Korrektheit”gesprochen, wo es doch in Wirklichkeit um Macht geht. Und zwar um nichts weniger als die Frage, wer in Deutschland die Definitionsmacht bezüglich der Repräsentation Schwarze Menschen und People of Color besitzen sollte. Bis jetzt haben weiße Deutsche dieses Recht ganz selbstverständlich für sich in Anspruch genommen. Doch langsam, aber sicher entgleitet ihnen dieses Privileg. Für viele von ihnen fühlt sich diese Entwicklung offensichtlich nicht gut an.
Es werden immer wieder dieselben Befürchtungen hervorgebracht. Kinderbücher sollen unangetastet bleiben und auf keinen Fall verändert werden! Kulturelle Traditionen sollen bewahrt und nicht kritisiert werden! Und das Wort Rassismus soll exklusiv dafür reserviert sein, nur die allerabscheulichsten Verbrechen zu beschreiben – Verbrechen von Nazis oder Rechtsradikalen! Aber für eine wachsende Zahl Schwarzer Deutscher oder Deutscher of Color sind diese tradierten “Wahrheiten” einfach unzulänglich. Das Gleiche gilt für Schwarze Menschen und People of Color, die in Deutschland leben und die deutsche Nationalität nicht besitzen. Der Alltag von all jenen unter uns, die oft nicht auf den ersten Blick als “deutsch” identifiziert werden, ist typischerweise durch exotische Projektionen gekennzeichnet, von Verachtung oder Angst – und manchmal von allen drei gleichzeitig. Die Idee, dass man Deutsche an ihrer Hautfarbe erkennen kann, ist lächerlich, hält sich aber hartnäckig. Sie erlaubt manchen Menschen, andere nach ihrer „wahren“ Herkunft zu befragen, sie zu ihrer akzentfreien Aussprache zu beglückwünschen – oder ihre Papiere sehen zu wollen. Audre Lorde, eine afroamerikanische Lesbe, Feministin, Dichterin, Aktivistin, Wissenschaftlerin und Mutter, die eine wichtige Rolle für die Initialisierung des Politaktivismus Schwarzer Deutscher in den 1980er Jahren spielte, benannte die Wichtigkeit von gegenseitiger Unterstützung für Schwarze Menschen im Allgemeinen und für Schwarze Frauen im Besonderen. Sie war es, die den Satz schrieb: “Ohne eine Vision fühlt sich jede soziale Veränderung wie der Tod an” (1). Um für die Zukunft in Deutschland eine Vision zu entwerfen, müssen wir in die Vergangenheit zurückkehren.
Auf einer globalen Ebene wurden Schwarze Frauen historisch sowohl innerhalb (weiß dominierter) feministischer Bewegungen wie auch in (männlichen dominierten) Black-Power-Bewegungen unsichtbar gemacht (2). Deutschland stellt hierbei keine Ausnahme dar. Obwohl Schwarze Menschen schon seit über 300 Jahren hier gelebt haben, haben die meisten Deutschen erstaunlich wenig Wissen über die Präsenz und den Einfluss Schwarzer Menschen in diesem Land. Und auch in Schwarzen Communities sind die bekanntesten Beispiele afrodeutscher Selbstbehauptung und Widerstand gegen Rassismus vor der Mitte der 1980er typischerweise männlich: z.B. Anton Wilhelm Amo, ein Schwarzer Mann, der 1736 der erste afrodeutsche Professor wurde; und Rudolf Duala Manga Bell, ein in Kamerun geborener König und Aktivist, der sich der deutschen Kolonialherrschaft in Kamerun wiedersetzte und dafür 1914 wegen Hochverrats hingerichtet wurde. Auf der anderen Seite sind Simone de Beauvoir und Clara Zetkin sehr bekannte und geschätzte Figuren innerhalb der deutschen feministischen Bewegung – und zu einem gewissen Ausmaß sogar im deutschen Mainstream. Diese Damen waren beide weiß. Für ihre Beiträge zum Antirassismus und Feminismus in Deutschland verdienen jedoch auch Schwarze Frauen Benennung und Anerkennung. Frauen wie Emily Duala Manga Bell, eine antikolonialistische Aktivistin, die ihren oben genannten Ehemann überlebte oder Fasia Jansen, eine Friedensaktivistin und Überlebende des KZ Neuengamme.
Schwarze Deutsche leben vor dem historischen Hintergrund einer rechtlichen Negierung ihrer Existenz, Schwarze Kinder mussten damit aufwachsen, dass es nur negative Termini gab, um sie zu beschreiben, viele dieser Kinder wurden aufgrund von Nazi-Rassengesetzen sterilisiert, und viele Schwarze Deutsche haben nie von Deutschen erfahren, die so aussehen wie sie. In einem Kontext, in dem kulturelle Repräsentationen von den Idealen “weiß” und “männlich” dominiert wurden, und wo typische kritische Positionen entweder männlich Schwarz oder weiblich weiß waren, ist es kein Wunder, dass Schwarze Deutsche Lesben und Frauen einer Unzahl von Hürden gegenüberstanden. Es war genau in diesem Kontext, dass Audre Lorde 1984 erstmals als Dozentin an die Freie Universität Berlin kam und mit jungen Schwarzen Frauen in Kontakt trat.
Ein wertvolles Zeugnis dieser frühen Phase des Schwarzen (Frauen-)Aktivismus stellt die neulich erschiene Anthologie “Euer Schweigen schützt euch nicht” dar, die von Peggy Piesche im Orlanda Verlag herausgegeben wurde. In diesem Buch diskutieren Aktivistinnen wie  Katharina Oguntoye und Katja Kinder den Beginn eines Prozesses, der später in der Veröffentlichung des Bandes “Farbe bekennen” münden sollte, in dem die Aussagen Schwarzer deutscher Frauen mit einer historischen Dokumentation des Schwarzen Deutschlands – fußend auf der Forschung von May Ayim – verbunden wurden. (3) Darüberhinaus führten die vielfältigen Aktivitäten zu dieser Zeit zur Bildung neuer Organisationen wie der Initiative Schwarze Deutsche und ADEFRA Afro-Deutsche Frauen.  Diese Organisationen heißen jetzt Initiative Schwarze Menschen in Deutschland und ADEFRA Schwarze Deutsche Frauen und Schwarze Frauen in Deutschland. Davor waren viele Frauen in der Frauenbewegung aktiv gewesen, aber letztendlich von ihr enttäuscht worden.
In ihrer Einleitung zu “Farbe bekennen” schreibt Lorde: “zuerst müssen wir uns gegenseitig erkennen” (4) –  keine leichte Aufgabe in einem Land, in dem den Menschen beigebracht wurde, dass Schwarz etwas war, dessen man sich zu schämen hatte, das hässlich oder bemitleidenswert war. Und tatsächlich war es so, dass aufgrund der pejorativen Darstellung von Hautfarbe viele Schwarze Deutsche gar nicht als Schwarz wahrgenommen wurden. Eine der massivsten Herausforderungen war es daher, aktiv gegen die Ablehnung und Isolierung vorzugehen: andere Schwarze Frauen auf der Straße anzusprechen, sich mit ihnen zu treffen und sich politisch zu organisieren. Frauen wie Jasmin Eding und Ina Röder-Sissako kommt das Verdienst zu, in München und Dresden solche Treffen organisiert zu haben. Diese ursprünglichen Treffen wuchsen zu regionalen politischen Gruppen und parallel hierzu entwickelten sich jährliche nationale Treffen oder “Bundestreffen”, die auch heute noch an einem langen Wochenende im Sommer abgehalten werden.
Es gibt ein Bild einer jungen weißen Deutschen, die am Sl*twalk Berlin 2012 teilnimmt – es ist mittlerweile berühmt. Auf ihm ist die junge Frau zu sehen, die ein Schild mit der Aufschrift trägt: “Unveil women’s right to unveil” (5). Auf dem Foto ist sie oben ohne, und bis auf ein kleines Rechteck rund um ihre Augen ist ihr Körper komplett mit schwarzer Farbe bedeckt. Auf dem Bild sind noch mehr weiße Frauen zu sehen – zwei von ihnen haben ebenfalls ihre Körper schwarz angemalt. Ganz offensichtlich finden die anderen Demonstrantinnen den Slogan und die Aufmachung in Ordnung, auch wenn sie das politische Statement nicht vorbehaltlos unterstützen. Dieses Bild ist jedoch aus mehreren Gründen problematisch und in den Wochen nach dem Sl*twalk haben viele Menschen ihren Protest in Form von Blog Posts, Tweets, E-Mails und öffentlichen Kommentaren geäußert. Tatsächlich ist nämlich das oben beschriebene Bild eine verblüffende Demonstration weißer Privilegien innerhalb der feministischen Bewegung. Es ist ein weiterer Versuch weißer Frauen, sich die Kompetenz anzumaßen, für Women of Color zu sprechen, indem sie dafür rassistisches, unterdrückerisches und diskriminierendes Werkzeug benutzen. Damit Schwarze Frauen und Women of Color Seite an Seite mit ihren weißen Schwestern innerhalb der Frauenbewegung laufen können, müssen die ganz spezifischen Unterdrückungsmechanismen, die wir erfahren, sichtbar gemacht und ernst genommen werden. Die Verwendung von Blackface hat eine ganz klare rassistische Tradition und kann von weißen Menschen nicht wieder angeeignet werden, wie edel auch immer ihre Anliegen sein mögen. Und die Verwendung des Schleiers als Schlachtfeld, auf dem Frauenrechte verteidigt werden sollen, ist nicht die Aufgabe von nicht-muslimischen Frauen. Ein solches Verhalten ist paternalistisch und perpetuiert den uninformierten und islamophoben Glauben, dass Women of Colour sich nicht freiwillig für Hijab, Niqab oder Burka entscheiden. Wir können für uns selbst sprechen.
Der gegenwärtige Zusammenschluss Schwarzer Menschen in Deutschland verdankt viel dem Mut, der harten Arbeit und der Unnachgiebigkeit Schwarzer Frauen und Lesben, die in den 1980er Jahren aktiv waren. Die Fortschritte im aktuellen Diskurs über Diversity bauen gleichzeitig auch auf den Lehren und der Forschung Schwarzer Frauen wie Prof. Dr. Maureen Maisha Eggers, Prof. Dr. Grada Kilomba, Professor Dr. Fatima El-Tayeb, Peggy Piesche, Nicola Lauré Al-Samarai, Natasha A. Kelly, Nadja Ofuatey-Alazard wie auch der Expertise und dem Aktivismus von Schwarzen Frauen wie  Lara-Sophie Milagro (Schauspielerin und Opernsängerin), Noah Sow (Autorin, Musikerin, Gründerin und  Vorstand der Media-Watch-Organisation Der Braune Mob), Sandrine Micossé-Aikins (Künstlerin und Kuratorin) und Sheila Mysorekar (Autorin und Journalistin) auf. Diese Liste erhebt keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit, sondern will stattdessen einen kleinen Einblick in die Vielfalt der in Deutschland verfügbaren Quellen und Ressourcen geben – wenn man denn bereit ist, sich die Zeit zu nehmen, sich damit zu beschäftigen.
Echter  intersektional ausgerichteter Aktivismus bedeutet, Macht zu teilen und Schwarze Frauen und Women of Color als Partnerinnen anzuerkennen: nicht für uns zu sprechen, sondern unsere Plattformen zu promoten und zu teilen, so dass wir sprechen und gehört werden können. So dass unsere Namen für Straßenumbenennungen vorgeschlagen werden, dass unsere Geschichte(n) in der Schule gelehrt und gelernt werden können, dass wir gebeten werden, das Zeitgeschehen zu kommentieren. In einem persönlichen Gespräch vertraute mir eine afrodeutsche Journalistin neulich an, dass sie leise optimistisch sei, dass all das passieren wird. Sie bemerkte, dass die Zahl Schwarzer Frauen, die in Mainstream-Medien bezüglich der aktuellen Debatte zu rassistischen Formulierungen in Kinderbüchern interviewt worden seien – auch wenn sie immer noch erbärmlich niedrig war -, doch schon größer war als jene während der Blackface-Diskussionen. Und es wird besser werden. Vor allem dann, wenn wir Schwarze Frauen auf dem Weg des sozialen Aktivismus weitergehen, den unsere Vorgängerinnen angelegt haben.
Übersetzung: Sonja Eismann, Missy Magazine
 
Fußnoten
[1] Zitiert aus Piesche, Peggy (Hg.) (2012) ‚„Euer Schweigen Schützt Euch Nicht“. Audre Lorde und die Schwarze Frauenbewegung in Deutschland‘ (Berlin: Orlanda Verlag), S. 82.
[2] Der Name dieses Artikels ist von folgender Anthologie entlehnt: ‘All the Women are White, All the Blacks are Men, But Some of Us are Brave’, hrsg. Von  Gloria T. Hull, Patricia Bell-Scott und Barbara Smith (New York: Feminist Press, 1982), der sich mit Schwarzem Feminismus in den USA beschäftigt.
[3] Oguntoye, Katharina; Ayim, May und Schultz, Dagmar (1986) ‚Farbe Bekennen, Afro-deutsche Frauen auf den Spuren ihrer Geschichte‘ (Berlin: Orlanda Verlag)
[4] Zitiert aus Piesche, Peggy (Hg.) (2012) ‚„Euer Schweigen Schützt Euch Nicht“. Audre Lorde und die Schwarze Frauenbewegung in Deutschland‘ (Berlin: Orlanda Verlag), S. 80.
[5] http://static0.demotix.com/sites/default/files/imagecache/a_scale_large/1400-9/photos/1347729784-slut-walk-berlin-demonstration-takes-place-in-brandengurger-gate_1449559.jpg