„Rede – May Ayim Ufer“ von Joshua Kwesi Aikins

Liebe Brüder und Schwestern, liebe Mitstreiterinnen der Straßen-Ini, liebe Freundinnen und Freunde, sehr geehrte Bezirksverordnete, sehr geehrte Damen und Herren
die heutige Einweihung der Gedenktafel hier am May Ayim Ufer ist ein kleiner Schritt auf einem langen Weg, deswegen möchte ich meine Anmerkungen mit einem Sprichwort meiner ghanaischen Vorfahren einleiten: Das Adinkra Proverb San-ko-fa lädt ein: „Geh zurück und hole es Dir“. Gemeint ist die Notwendigkeit, in die Vergangenheit zu blicken, sich mit Geschichte auseinanderzusetzen, um die Gegenwart zu verstehen und die Zukunft gestalten zu können.
Genau dies haben wir als Straßeninitiative getan, als wir in unseren Recherchen 70 Berliner Straßen und Plätze identifiziert haben, deren Namen einen kolonialen Bezug haben. In einem Dossier haben wir die historischen Hintergründe dieser kolonialen Bezüge und Ehrungen, die vom 18 Jahrhundert bis ins Dritte Reich reichen dokumentiert. Die meisten dieser Straßen tragen Länder- und Städtenamen. Für diese fordern wir eine erklärende Kommentierung. 12 Straßen ehren allerdings Menschen, die im Namen des deutschen Kolonialismus geplündert, Kriege geführt, Menschen vergewaltigt, verschleppt und ermordet haben. Angesichts dieser Greuel haben wir zurückgeblickt auf die andere Seite dieser Geschichte, um alternative Namenspatron_innen vorschlagen zu können. Einer dieser Vorschläge wurde hier in Kreuzberg aufgegriffen – das Ergebnis ist das May Ayim Ufer mitsamt der Gedenktafel, die wir heute einweihen.
Die im Sankofa Sprichwort beschriebene Haltung fordern wir auch von der Stadt, von den Bürger_innen und ihren gewählten Vertreter_innen, wenn wir in besagtem Dossier Straßenumbenennungen im Sinne eines postkolonialen Perspektivwechsels einfordern. Da heute mit der Einweihung dieser Informationstafel die Idee im öffentlichen Raum verankert wird, möchte ich noch einmal kurz erläutern, was wir damit meinen, und warum diese Einweihung nur der Anfang dieses Perspektivwandels sein kann.
Unsere alternativen Namensvorschläge sollen sicherstellen, dass der koloniale Bezug der Straßen gewahrt bleibt, diese wichtige Epoche der Geschichte muss im Stadtbild der ehemaligen Kolonialhauptstadt Berlin erinnert werden.
Erinnerung muss sein – allerdings aus einer veränderten Perspektive. Geehrt werden sollen nun diejenigen, die in unterschiedlicher Form antikolonialen Widerstand geleistet haben. So soll der anonyme Opferstatus der Kolonisierten gebrochen werden.
Wir nennen die Perspektivumkehr, die wir anstreben postkolonial – und verwenden so ein Wort, dass immer wieder für Mißverständnisse sorgt. In unserem Verständnis steht das „post“ nicht für „nach“ im Sinne einer zeitlichen Einteilung. Wenn der Kolonialismus und seine Nachwirkungen wirklich schon vorbei wären, müssten wir diese Informationstafel heute nicht einweihen. Post-kolonial bezeichnet vielmehr die Idee, über koloniale Ideologie, Gewalt und deren Fortwirkungen hinauszuweisen.
So wie koloniale Straßennamen Symptome einer Geisteshaltung sind, ist die postkoloniale Perspektivumkehr nicht nur Ausdruck von Widerstand gegen, sondern vor allem auch eines Widerstandes für Selbstermächtigung, Selbstbestimmung und ungehinderte Selbstverwirklichung nicht nur der vormals Kolonisierten, sondern auch der Kolonisierenden. Die Notwendigkeit von Straßenumbenennungen und die Kontroversen der letzten Jahre machen überdeutlich, dass die Denkweise und Kultur bis ins Stadtbild hinein von einer Ideologie geprägt ist, die mit dem heutigen Demokratieverständnis unvereinbar ist.
Es ist wichtig, die Gegenwart der kolonialen Vergangenheit im Auge zu behalten: Wenn ein ranghoher Politiker einer der beiden sogenannten Volksparteien in einem Buch biologischen Rassismus propagiert und dieses Buch zu einem Bestseller werden kann, wenn zutiefst rassistische Thesen mit dem Argument salonfähig gemacht werden, hier würde endlich einmal jemand „unbequeme Wahrheiten“ ansprechen, so verweist das auf die unbequeme Tatsache, dass kolonialrassistisches Denken eben nicht vergangen und überwunden, sondern nur allzu gegenwärtig ist.
So wie der an den Vorbereitungen des brandenburgischen Sklavenhandels maßgeblich beteiligte Gröben ist besagter Autor rassistischer Bestsellerthesen offensichtlich kein Einzeltäter. Solange Kolonialismus mit seinen historischen und gegenwärtigen Auswirkungen nicht umfassend thematisiert wird, kann auch die Tradition des Rassismus, mit ihren Verbindungslinien vom Versklavungsfort Großfriedrichsburg über die ersten offiziell so bezeichneten deutschen Konzentrationslager im heutigen Namibia bis ins dritte Reich nicht verstanden werden. Was bekämpft und schließlich überwunden werden soll, muss aber zunächst einmal verstanden werden. Auch deswegen ist die eingeforderte Perspektivumkehr so wichtig. Sie rückt diejenigen ins Blickfeld, die Widerstand geleistet haben. Sie machen den reichhaltigen Erfahrungsschatz der von Rassismus Betroffenen zugänglich, der Basis und Ergebnis des Widerstandes war, ist und bleiben muss.
Auch May Ayim war keine Einzelkämpferin, sondern spielte eine wichtige Rolle in der Schwarzen Community, aber auch unterschiedlichen politischen Gemeinschaften, aus dessen Erfahrungsschatz sie schöpfte. Sie war sich dessen sehr bewusst – das Sankofa Motiv zieht sich durch ihre Gedichtbände. Es verweist dort nicht zuletzt auf die Notwendigkeit, Geschichte kritisch zu reflektieren und sich gleichzeitig positiv auf die eigenen diasporischen Wurzeln zu beziehen.
Es ist einer der vielen Verdienste May Ayims, dass sie nicht nur die Vergangenheit des Kolonialismus, sondern auch die koloniale Gegenwart immer wieder ironisch und ernst, poetisch und wissenschaftlich thematisiert hat – im Kampf gegen Geschichtsvergessenheit und Rassismus aber den Kampf für Selbstermächtigung Schwarzer Menschen in und jenseits von Deutschland nie aus den Augen verlor.
Wie May Ayims Werk ruht auch die Umbenennung und die heutige Einweihung auf vielen Schultern. Es ist unmöglich, alle Namen zu nennen, deswegen möchte ich stellvertretend für viele nur zwei Organisationen und zwei Individuen erwähnen:
Adefra Schwarze Frauen in Deutschland e.V. und die Initiative Schwarze Menschen in Deutschland e.V. setzen sich im Sinne May Ayims für die Ermächtigung Schwarzer Menschen ein.
Yonas Endrias und Michael Küppers haben sich für Straßenumbenennung bzw für das Gedenken an May Ayim eingesetzt und damit das May Ayim Ufer mit auf den Weg gebracht.
Wofür Gröben steht, darf sich nie wiederholen. Und darum muss sich eine Straßenumbenennung mit Perspektivumkehr noch oft wiederholen. Lasst uns gemeinsam dafür sorgen, dass dieser Tafel viele weitere folgen. Lasst uns daran arbeiten, dass dieser Ort zu einem umfassenderen Perspektivwechsel beiträgt: Weg von dem, wofür Gröben stand, hin zu dem wofür May Ayim stand, steht und stehen wird.
Sankofa!
Joshua Kwesi Aikins
Initiative Schwarze Menschen in Deutschland (ISD-Bund) e.V.
May-Ayim-Ufer Berlin, 29. August 2011