Wer ist hier empfindlich? Ein Kommentar

Warum reagieren so viele Leute angefasst, wenn ein rassistischer Begriff in einem Kinderbuch ausgetauscht werden soll? Die Autorin von der „Initiative Schwarze Menschen in Deutschland“ freut sich über die Diskussion und erinnert daran, dass es sich bei N* keineswegs um antiquiertes Wortgut handelt. Es ist nach wie vor gängig. 
Endlich ist die Debatte um rassistische Sprache in Kinderbüchern im Mainstream angekommen. Sie ist nicht neu. Seit Jahrzehnten versuchen Menschen in Deutschland, dieses Thema öffentlich zu machen. Jahrelang schrieben Eltern und Institutionen wie „der brauen Mob“ Verlage an, und versuchten gegen den Rassismus in der deutschen Sprache anzugehen. Dass darüber in den bildungsbürgerlichen Wohnzimmern und Zeitungen jetzt eine Empörungswelle entbrannt ist, verwundert.
Von Sprachpolizei, Kulturverfall, Verfälschung und Gehirnwäsche ist die Rede. Der Protest klingt zu schrill, um ihn als typische Abwehrreaktion zu werten, wenn es um das Thema Rassismus geht. Stern-Autor Hans-Ulrich Jörges höhnt, er habe seine Töchter wohl „rassistisch und sexistisch verseucht“, weil er ihnen Jim Knopf vorgelesen habe. Ulrich Greiner von Die Zeit empört sich, wie man „in der menschenfreundlichen Absicht, auf die Gefühle von Minderheiten Rücksicht zu nehmen“ zur „Zensur“ greife. Ob wir auf dem Weg zur Trottelsprache wären, fragt Spiegel-Autor Jan Fleischauer, der nur Schwarze kennen will, die das Wort in Ordnung finden.
Ich frage mich, warum reagiert eine Gruppe in Deutschland so empfindlich? Seit wann muss mit dem N-Wort ein Teil des deutschen Kulturgutes bewahrt werden? Die Verrenkungen, mit denen sein Fortbestand verteidigt wird, sind jedenfalls beachtlich. Längst hat die Debatte nicht mehr nur mit Literatur zu tun. Auf unzähligen Facebookseiten und in Kommentarfeldern wird über die Nutzung des Worts an sich diskutiert. Gefährliches Halbwissen kursiert über die „echte“ Geschichte seines Ursprungs.
Spiegel Autorin Dialika Neufeld teilt diese Diskutanten treffend in drei Gruppen ein: Die „aus Prinzip N-Sager“, die „Problem-Leugner“ und diejenigen, die sich allein um den Schutz des Originals sorgen. Auch ich fühle mich an endlose Diskussionen und Abwehrmechanismen erinnert, die aufkommen, wenn ich Mitmenschen darauf hingeweise, dass das N-Wort – zumindest in meiner Gegenwart – doch bitte nicht verwendet werden soll.
Auch, wenn es derzeit als antiquierter Wortschatz dargestellt wird: Veraltet ist das Wort nämlich nicht.
Im Gegenteil: Das N-Wort wird rege von weißen Menschen verwendet, die sich bei der Anwesenheit schwarzer Menschen mit den Worten „War nicht so gemeint“ entschuldigen oder abwehren mit „Sei doch nicht so empfindlich.“ Interessant ist, dass besonders Journalisten und Autoren überraschend uninformiert scheinen, obwohl Sprache ihr tägliches Geschäft ist. So wird das N* in Medien und Büchern zu Marketingzwecken instrumentalisiert und immer wieder reproduziert.
Sind wir ehrlich. In Wirklichkeit geht es nicht um Zensur. Denn gegen andere sprachliche Modernisierungen in Verlagen hatte offenbar auch niemand etwas auszusetzen. Wer jetzt mit dem Erhalt des „Originals“ argumentiert, sei daran erinnert, dass es schon längst modernisierte Übersetzungen gibt. Zudem haben die derzeit diskutierten Streichungen nicht einmal eine ästhetische Konsequenz. Es geht hier um eines: um Wörter, die damals wie heute rassistisch waren. Nur dass früher Rassismus zum guten Ton zählte.
Was oft vergessen wird: Deutschland hat nicht nur den Holocaust, sondern auch eine Kolonialgeschichte hinter sich. Eine Zeit, die ebenfalls mit Unterdrückung, Gewalt und Mord einherging. Erinnert sei an den Völkermord der Deutschen an den Herero und Nama im heutigen Namibia Anfang des 20. Jahrhunderts. Die Sprache und Bilder über schwarze Menschen aus dieser Zeit prägen uns bis heute. Das N-Wort hat seine Wirkungsmacht nicht verloren.
Ist es wirklich erstrebenswert, Kindern eine rassistische Weltsicht zu vermitteln? Sie sind nicht dumm. Und gerade deswegen ist es so gefährlich. Sie verinnerlichen die Werte und Moral, die sie durch Bücher transportiert bekommen und tragen sie erfahrungsgemäß in ihre Klassenräume.
Maisha-Maureen Eggers, Professorin für Kindheit und Differenz, erklärt in ihrem Aufsatz „Pippi Langstrumpf – Emanzipation nur für weiße Kinder?“, wie die Geschichte „schwarze Kinder als stumme, handlungsabhängige Figuren konstruiert“ und so das koloniale Bild vom unterwürfigen „Eingeborenen“ bis heute am Leben erhält. Diese Botschaft verstehen alle Kinder – weiße wie schwarze. Ersteren wird dabei beigebracht, wer N* sind und dass man sie damit beleidigen kann. Letzteren wird vermittelt, dass sie die N* sind. Beide fühlen das Machtverhältnis subtil, das mit dem Wort und der Botschaft verbunden ist.
Wie schön wäre es, wenn wir uns darauf einigen könnten: Raus mit den kolonialen Altlasten! Dann bräuchten Kinder vor dem Schlafen gehen keine diskriminierenden Wörter mehr vorgelesen bekommen, deren verletzende Bedeutung erst erklärt werden muss, wie es jetzt viele raten. In der Hoffnung, dass Kinder diese doppelte Ansprache richtig verstehen und die Wörter dann nicht doch in ihrem Alltag benutzen.
Stattdessen verschiebt sich die Debatte und es wird die Political-Correctness-Keule geschwungen. Was steckt dahinter? Die Angst, sich von den eigenen Vorurteilen verabschieden zu müssen, das Gefühl, sich um die eigene Kindheit betrogen zu fühlen? Oder vielleicht die Tatsache, dabei ertappt worden zu sein, weil man sich selbst nicht an den Formulierungen stört – sie unter Umständen noch heute verwendet?
„Zeitgemäß“ nennt der Thienemann Verlag seine Entscheidung. Ich nenne es verantwortungsvoll. Um sich darauf einzulassen, braucht es Offenheit und Empathie — und die Anerkennung der Tatsache, dass in Deutschland nicht alle Menschen weiß sind. Genauso wenig wie alle Deutschen weiß sind und damit auch nicht alle Leser. Simone Dede Ayiv hat im Tagesspiegel diese Perspektive erst kürzlich sehr deutlich macht.
Afro-Deutsche leben seit mehreren hundert Jahren in Deutschland. Sie wurden damals nicht gefragt, wie sie den verbreiteten Rassismus erleben. Werden sie es heute? Die neunjährige Ishema aus Frankfurt bringt es in ihrem Leserbrief an die Zeit auf den Punkt. „Stellen sie sich mal vor, sie wären Deutschafrikaner (…) Sie kaufen nichtsahnend ‚Die Zeit‘ (…) und da steht dann, dass das Wort Neger aus den Kinderbüchern gestrichen werden soll und dass das angeblich die Kinderbücher verderben soll. Ihr könnt Euch nicht vorstellen, wie sich das für mich anfühlt, wenn ich das Wort lesen oder hören muss. Mein Vater ist kein Neger und ich auch nicht.“
Die kleine Ishema hat recht. Schwarze Menschen werden nicht mitgedacht. Warum? Weil sie pauschal als „Afrikaner“ gedacht werden, die Fremden, die Anderen, die angeblich aus der Empfindlichkeits- oder Minderheitenecke rufen? Wer Minderheiten als kränkungsempfindlich abstempelt, übersieht ihr Selbstbewusstsein. Sie haben das N-Wort nie legitimiert. Und wer auf der Reproduktion von rassistischen Stereotypen beharrt, verkennt diese Realität. Kristina Schröder scheint das verstanden zu haben. Hoffentlich erreicht diese Botschaft nun auch den Mainstream.
Von Hadija Haruna
erschienen auf der Seite des Mediendienst Integration