das erinnern

Redebeitrag von Sharon Dodua Otoo

zur Straßenumbenennungen am 02. Dezember im afrikanischen Viertel in Berlin. 

Von nun an werden die Straßen nach Rudolf und Emily Duala Manga Bell und Cornelius-Fredericks benannt. Damit werden ab jetzt Menschen geehrt die sich gegen Kolonialisierung und Rassismus zu Wehr gesetzt haben.

das erinnern

(ein gedicht statt einer rede)
Sharon Dodua Otoo, Dezember 2022

an den tagen, an denen ich am optimistischsten bin,
weiß ich, es geschieht sowieso: das erinnern
denn es gibt menschen, sie tragen geschichten in den haaren
stränge der hoffnung eingeflochten in jeder cornrow
alltäglicher widerstand eingedreht in jeder dreadlock
manche zeigen goldene adinkra-symbole am ohr
oder um den hals
hier werden kinder mit den namen derer geschmückt, die vor ihnen kamen
dort werden freiheitslieder gesungen
libations werden gegossen, immer und immer wieder, die erde ist berauscht davon
und manche von uns tun es: das erinnern
es geschieht sowieso, ob die anderen es wahrhaben wollen oder nicht
.

Aber an den Tagen, an denen meine Geduld nachlässt,
an denen ich alle Social Media meide und den Klingelton ausschalte;
wenn ich Bücher lese statt Zeitungen;
wenn ich Musik höre statt Radio;
an solchen Tagen lastet die Frage nach Dem Erinnern
wie ein Haufen Bügelwäsche in der Ecke.
Ich sollte mich darum kümmern. Je schneller ich anfange, desto besser, denke ich.
Wenn sie erledigt ist, wird es mir zweifellos besser gehen.
Doch um den Anfang zu machen, muss ich mich wirklich anstrengen und
ungefährlich ist die Aufgabe auch nicht.
Ich könnte mich sogar dabei verbrennen.
Denn ich pflege Kontakt mit kultivierten Menschen,
belesenen Menschen,
gut situierten Menschen,

die vermutlich die Knigge-Regeln mit der Muttermilch aufgesogen haben.
Menschen, mit denen ich mich an meinen optimistischsten Tagen gerne unterhalte.
Menschen, die allerdings keine Bedenken zeigen – kein Zögern, wirklich keine Scham –
im höflichen Gespräch – mit mir – rassistische Worte zu verwenden oder
im Radiobeitrag – für uns – antimuslimische Ressentiments zu bedienen.
Ich sitze mit Herrn Bernhard beim deutschen Mittagstisch.
Die Themen „Kinderbücher“ oder „Straßenumbenennung“ kündigen sich am Horizont an.
In jenen Momenten, irgendwo zwischen Gazpacho und Espresso, erlebe ich,
dass „Die Zauberflöte“ genauso zu Dem Erinnern gehört,
wie „Pippi Langstrumpf“ und „Sarottistraße“,
es gibt nicht nur Nazis in der Suppe.
Und in den Köpfen, in denen Betrüger als Forscher verharmlost werden,
in denen geraubtes Land zu Schutzgebieten verklärt wird,
in denen aufrichtige Könige verraten werden,
in denen fehlende offizielle Entschuldigungen auf
kolonial-begründete Hinrichtungen folgen,
hilft kein Appell an das Gewissen.
So in etwa denke ich, an den Tagen, an denen die Bügelwäsche wächst und wächst. Doch:

an den tagen, an denen ich am optimistischsten bin,
weiß ich, es geschieht sowieso: das erinnern
es gibt menschen, sie tragen geschichten auf der haut
unschuldiges blut in den adern und
blüten entlang der rückenwirbelsäule
manche sprechen leise und halten ihren blick gesenkt
oder gleich den ganzen kopf
hier werden brücken gebaut, eine geduldige erklärung wie zum ersten mal
dort marschieren menschen los, denn: wir wollen endlich atmen
tränen werden vergossen, beim lachen und beim weinen, die erde ist berauscht davon
und manche von uns tun es: das erinnern
wir schenken deutschen straßen unsere namen,
es geschieht sowieso, ob die anderen es wahrhaben wollen oder nicht
.